1966 bis 2020 – 54 Jahre Gemeinsamkeit leben

Am 10. November 1966 fiel der Startschuss. Eltern aus dem damaligen Landkreis Neustadt am Rübenberge, ihre Freunde und ein paar Fachleute wie Lehrer und Ärzte schlossen sich zusammen und gründeten die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind, Kreisvereinigung Neustadt/ Rbge. e.V.“ Der Wunstorfer Pastor Ernst Schwartz war der erste Vorsitzende. Zusammen mit der Ärztin Dr. Christa Führus, Dr. Günter Lang, Hannelore Thieme, Gudrun Schramm, Brigitte Grobe, Getrud Wiebking und Reinhard Süßkind hob er den Verein aus der Taufe. Es war die 244. Orts- bzw. Kreisvereinigung, die sich unter dem Dach der 1958 vom Niederländer Tom Mutters gegründeten Lebenshilfe zum Ziel gesetzt hatte, sich um geistig behinderte Kinder zu kümmern, sie zu fördern und entsprechende Angebote aufzubauen.

1966 bis 2016 - 50 Jahre Lebenshilfe Seelze (pdf, 9,03 MB)

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Die Anfänge waren sehr bescheiden. Zwei Nachmittagsangebote pro Woche waren die ersten Schritte. Das damals weithin verbreitete Vorurteil: Geistig behinderte Kinder sind nicht lern- und bildungsfähig. Es gab aber auch andere Meinungen. Der Verein fand engagierte Lehrer, die sich einsetzten und bereit erklärten, die Kinder zweimal pro Woche nachmittags zu fördern. Die Eltern beförderten ihre Kinder noch selbst. Der Landkreis gab erste Starthilfe mit Fahrtkostenzuschüssen und stellte kostenlos Räume zur Verfügung.

Wer schenkt uns ein Haus?
Die ersten Schritte waren gemacht. Doch der Verein hatte noch keine Bleibe. Die Firma Langnese-Iglo hörte den Hilferuf und schenkte dem jungen Verein ihr ehemaliges Verwaltungsgebäude – einen einfachen und zu der Zeit ungenutzten Pavillon in Wunstorf. Die Initialzündung für die Lebenshilfe. Sieben Jahre nach der Gründung war der Verein Besitzer seiner ersten Bildungseinrichtung. Die heilpädagogische Tagesbildungsstätte konnte ihren Betrieb aufnehmen. In der vom Kultusminister anerkannten Tagesbildungsstätte mit ihrem ganzheitlichen Förderangebot erfüllen Kinder mit einer geistigen Behinderung ihre inzwischen gesetzlich verankerte Schulpflicht.

Was kommt nach der Schule?
In den 1970er Jahren entstanden im gesamten Bundesgebiet spezielle Werkstätten. Es galt, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Be-hinderung eine sinnvolle Tagesgestaltung und -förderung anzubieten. Selbstwertgefühl und Selbstbestätigung waren Schlüsselbegriffe in dieser Zeit. Eingliederung in das allgemeine Arbeitsleben lautete zwar schon damals der gesetzliche Auftrag der Werkstätten. Allerdings konzentrierten sich die damals in der Umgebung vorhandenen Werkstätten auf vermeintlich Werkstattfähige. Sie konnten Menschen mit einer schweren und mehrfachen Behinderung kein passendes Angebot machen. Sie fielen durchs Raster.

„Die können doch nicht arbeiten“, hörte Herbert Burger in diesen Jahren immer wieder. „Wir hatten Mitte der 70er Jahre etwa 35 Menschen mit zum Teil schweren Behinderungen, die in anderen Einrichtungen als nicht werkstattfähig galten“. Ein unhaltbarer Zustand. Für ihn stand fest: „Auch diese Menschen brauchen qualifizierte Betreuung, eine ihren Fähigkeiten entsprechende Förderung.“ In dieser Zeit reifte im Vorstand der Plan für eine eigene Werkstatt.

Werkstatt, Arbeit und Berufsbildung
Das Vorhaben wurde Ende der 1970er Jahre konkreter. Burger sah sich aber bürokratischen Zwängen ausgesetzt, musste immer wieder Ablehnung und Vorurteile überwinden. Nach jahrelanger Suche fand der Verein 1978 im Seelzer Gewerbegebiet am Mittellandkanal ein passendes Grundstück. Finanzierung, Genehmigungen, Planung und Bau nahmen noch einmal rund sechs Jahre in Anspruch.

Provisorische Werkstatt in Berenbostel
Der Start einer provisorischen Werkstatt gelang 1980 in der ehemaligen Kampschule in Berenbostel. Die Stadt Garbsen stellte das leerstehende Grundschulgebäude, das eigentlich abgerissen werden sollte, kostenlos zur Verfügung. 50 Arbeitsplätze konnten hier eingerichtet werden. Ein Anfang, der im Oktober 1983 in weniger als einer Stunde zunichte gemacht wurde. Ein Feuer zerstörte das Holzhaus, die Einrichtung, Werkzeuge, Arbeitsplätze und Fahrzeuge. Ein herber Rückschlag für den Verein, der für den Übergang in den zweiten provisorischen Standort in Berenbostel zog. Während die Bauarbeiten in Seelze auf Hochtouren liefen, wurde die ehemalige Kronsbergschule zum Domizil.

Eröffnung der Seelzer Werkstatt
1984 war es schließlich soweit: Das Werk 1 mit rund 200 Ausbildungs- und Arbeitsplätzen konnte offiziell in Betrieb genommen werden. Ein Meilenstein. In den 1980er und 1990er Jahren wurde das Angebot stetig erweitert. 1987 kaufte der Verein einen benachbarten Betrieb, um eine weitere Werkstatt (Werk 2) mit 60 Arbeitsplätzen einzurichten. Neue Lagerhallen entstehen, 2006 wird die Schlosserei erweitert. Heute bietet die anerkannte Seelzer Werkstatt mit ihrer Zweigwerkstatt im Barsinghäuser Ortsteil Holtensen rund 550 Menschen vielfältige Arbeits- und Bildungsangebote. Ziel ist es, Menschen mit Behinderung, entsprechend ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten, an den allgemeinen Arbeitsmarkt heranzuführen und sie im Idealfall zu integrieren. Dabei arbeitet der Verein mit zahlreichen Unternehmen aus der Region seit Jahrzehnten vertrauensvoll zusammen.
Etwa 60 Menschen mit Behinderung haben in sogenannten Außenarbeitsplätzen eine Beschäftigung in den Unternehmen gefunden. Ein weiterer Schwerpunkt sind Menschen mit sehr schweren Behinderun-gen. Ihnen bietet die Lebenshilfe in Seelze individuelle Förderprogramme.

Ab 2017: Neue Werkstatt mit 180 Arbeitsplätzen
Im Frühjahr 2017 wird der Verein das Werk 4 eröffnen, eine neue Werkstatt mit 180 Plätzen. Rund zehn Millionen Euro investiert die Lebenshilfe in den Neubau. Es ist eines der größten Projekte in der Geschichte des Vereins. Auf dem rund 22.000 Quadratmeter großen Grundstück in Seelze, das der Verein bereits 2006 gekauft hat, entsteht ein etwa 3.900 Quadratmeter großer Gebäudekomplex. Ziel ist es, das Angebot im Berufsbildungsbereich und die Betreuung für Menschen mit schweren Behinderungen weiter auszubauen. Eine Großküche, ein Bistro und ein Werkstattladen komplettieren das Angebot. „Werk 4 soll ein offenes Haus sein. Einladend und freundlich“, betont Vorstand Gaby Bauch. „Wir möchten Hemmschwellen abbauen und Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenbringen.“

Lebensgrün: Hochwertige Bio-Produkte aus der Region
In der Zweigwerkstatt im Barsinghäuser Ortsteil Holtensen betreibt die Lebenshilfe Seelze seit 2003 eine eigene Gärtnerei. Ökologischer Anbau wird hier groß geschrieben. Spezialität sind Kräuter- und Gemü-sepflanzen. Seit April 2011 gehört Lebensgrün dem Bioland-Verbund an. Je nach Saison züchtet und kultiviert der Betrieb Salate, Tomaten, Kräuter, Gemüse und Gemüsejungpflanzen, Obst und vieles mehr – streng nach Bioland-Richtlinien. Mittlerweile hat Lebensgrün auch eigene Produkte wie Pesto, Senf und Essige sowie Kräutersalze und -öle im Programm.

LebensArt: Café und Hofladen im Torhaus
Mit LebensArt schreibt die Lebenshilfe Seelze ein neues Kapitel ihrer mehr als 50-jährigen Geschichte. Café, Hofladen, Ausstellungen sowie Seminare und Workshops – in der Hofanlage Holtensen entsteht ein in der Region einzigartiger und lebendiger Treffpunkt für Menschen mit und ohne Behinderung. Dafür sanierte die Lebenshilfe das denkmalgeschützte Torhaus der Hofanlage. 2015 begannen die Bauarbeiten. In ländlicher Umgebung können Besucher hausgemachte Kuchen und Snacks genießen. Im Hofladen werden unter anderem Erzeugnisse aus dem eigenen Biolandbetrieb Lebensgrün angeboten. Bis zu 15 Menschen mit Behinderung sollen hier ab Herbst 2016 im Service, Verkauf und in der Küche eine neue Aufgabe finden.

Kooperative Kindertagesstätte und Frühförderung
Heute finden mehr als 900 Kinder, Jugendliche und Erwachsene in den Einrichtungen der Lebenshilfe Seelze ein individuelles, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Angebot. Unter dem Motto „Frühe Hilfen – Wirksamste Hilfen“ nahm 1975 die heilpädagogische Frühförderung ihre Arbeit auf. Heute betreut der Bereich rund 90 Kinder aus der Region im Alter von zwei bis sechs Jahren und begleitet und unterstützt ihre Eltern. In der Kooperativen Kindertagesstätte lernen und spielen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unter einem Dach.

Wohnstätten und Wohngruppen: Zuhause bei der Lebenshilfe
Auch Menschen mit einer geistigen Behinderung brauchen eine sinnvolle und gesicherte Lebensgestaltung, wenn sich die Eltern nicht oder nicht mehr um sie kümmern können. Der Verein schuf deshalb mit dem Umbau eines ehemaligen Geschäftshauses 1985 in Wunstorf erste Wohnangebote. Für rund 150 Menschen sind die Wohnstätten und Wohngruppen in Wunstorf, Idensen und Holtensen zum Zuhause geworden. Das Team vom Ambulant Betreuten Wohnen hilft zurzeit rund 60 Frauen und Männern, den Alltag in den eigenen vier Wänden zu meistern.

Ambulante Dienste und Beratungsstelle „Blaues Haus“
Hervorgegangen aus dem Sozialdienst der Lebenshilfe Werkstatt wurden die ambulanten Dienste seit Anfang der 2000er Jahre stetig ausgebaut und das Leistungsspektrum erweitert. 2009 zieht der neue Bereich von Seelze ins „Blaue Haus“ nach Wunstorf. Die blaue Fassade an der „Lange Straße“ im Herzen der Stadt wird zum Markenzeichen der Ambulanten Dienste. In der Beratungsstelle können sich Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen über die Angebote der Lebenshilfe sowie Sozial- und Pflegeleistungen informieren. Von hier aus arbeitet auch der Familienunterstützende Dienst mit seinen rund 20 ehrenamtlichen Helfern. Seit 2011 bietet der Bereich auch qualifizierte Schulbegleitung an. Rund 30 Fachkräfte – Heilerziehungspfleger und Erzieher – betreuen mehr als 40 Kinder in Garbsen, Neustadt, Seelze und Wunstorf.

Stiftung der Lebenshilfe Seelze
Im Sommer 2015 wurde die Stiftung der Lebenshilfe Seelze gegründet. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Hilfe für Menschen mit Behinderung und ihre Anerkennung in der Gesellschaft, die Förderung des Wohlfahrtswesens sowie die Unterstützung hilfebedürftiger Personen. Die Stiftung begleitet, unterstützt und finanziert die Aktivitäten des Vereins vor allem auf den Gebieten Bildung, Sport und Freizeitgestaltung, Wohnen, Begegnungen in der Nachbarschaft sowie Begleitung alter Menschen mit einer Behinderung.

„Die Lebenshilfe Seelze hat in 50 Jahren viel erreicht, um die Lebensbedingungen geistig behinderter Menschen zu verbessern. Mit öffentlichen Mitteln und Spenden konnte ein Netz aus Einrichtungen und Diensten aufgebaut werden. Doch trotz aller Fortschritte mangelt es Menschen mit einer Behinderung noch immer an einer gleichberechtigten sozialen Teilhabe“, sagt Herbert Burger, Vorsitzender des Stif-tungsvorstands und des Aufsichtsrates der Lebenshilfe Seelze.

Gemeinsamkeit leben!
Unsere Arbeit lebt auch in Zukunft von partnerschaftlichem Zusammenwirken aller Beteiligten. Die Zusammenarbeit aller Gruppen in Werkstattrat und Elternvertretung, Heimbeirat und Betriebsrat sowie Aufsichtsrat, Vorstand und Einrichtungsleitungen stärkt die Solidarität und verwirklicht den Selbsthilfegedanken. Vielfältige Formen der Begegnung und der Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Behinderung, mit freiwilligen und ehrenamtlichen Helfern sowie die Öffnung der Einrichtungen nach außen helfen, Vorurteile abzubauen und Gemeinsamkeit zu schaffen.