Neues Gruppenangebot: Intuitiv ins Schwarze
Gemeinsam mit Gleichaltrigen Freizeit verbringen und ein Hobby ausüben. Was so selbstverständlich klingt, ist für Jugendliche im Autismus-Spektrum alles andere als normal. Soziale Interaktion fällt ihnen in aller Regel schwer. Häufig stoßen sie auf Unverständnis und erfahren Ausgrenzung. Dabei sind gerade die Förderung sozialer Kontakte, das Miteinander, die Entwicklung neuer Interessen und die Stärkung der Selbstständigkeit essenziell. Mit dem im Oktober 2023 geschaffenen Gruppenangebot “Therapeutisches Bogenschießen” hat die Autismusambulanz der Lebenshilfe Seelze einen Nerv getroffen. Aus den Trainingsstunden mit dem Therapeuten Tom Rehwald nehmen die Jugendlichen weit mehr mit als die richtige Schusstechnik.
Soziale Kompetenzen stärken
Viele Worte machen oder gar übermütig in die Halle stürzen, das ist nicht Rickmars Art. Ruhig und ernsthaft kommt er daher. Dennoch ist dem 15-Jährigen die Vorfreude auf das Bogenschießen deutlich anzumerken. Ebenso verhält es sich bei Lennart und Lias. Jeden zweiten Dienstag – im wöchentlichen Wechsel mit einer Kleingruppe junger Erwachsener – trifft sich das Trio für eineinhalb Stunden in der Sporthalle der Bert-Brecht-Schule Barsinghausen, um mit Pfeil und Bogen zu üben. Angeleitet werden sie von Tom Rehwald, Heilpädagoge, Mototherapeut und Bogenschieß-Trainer – ein Fachmann, der neben knapp 40 Jahren Erfahrung aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, auch jede Menge Begeisterung, Herzblut und Leidenschaft mitbringt. Eines ist im wichtig: „Ohne die Vorarbeit der Kolleginnen und Kollegen aus der Lebenshilfe Autismusambulanz hätte dieses Angebot nicht starten können. Sie haben die Teilnehmenden auf das Miteinander in einer Gruppe vorbereitet, ihre sozialen Kompetenzen gestärkt und damit den Weg geebnet.“
Nach dem Anlegen der Armschützer nehmen die Jugendlichen jeweils einen selbstgewählten Bogen und drei Pfeile zur Hand – und ihre Positionen ein. In der Mitte der Zielscheibe hat Tom Rehwald einen Luftballon angebracht. Intuitives Bogenschießen ist nicht nur ein rein technischer Ablauf. Stabiler Stand, richtige Körperspannung und -haltung, das perfekte Halten des Bogens und der Griff in die Sehne, den Ankerpunkt finden und im passenden Moment den Pfeil lösen – das Ganze gelingt nur, wenn die Bogenschützen auch ganz bei sich sind, sich fokussieren und alle Ablenkungen ausblenden, um den Pfeil dann quasi intuitiv ins Ziel zu bringen. Rickmar, Lennart und Lias ist die korrekte Ausführung schon in Fleisch und Blut übergegangen. Hochkonzentriert und in sich ruhend sind sie obendrein. Ihre Pfeile landen fast ausnahmslos auf der Scheibe, selten müssen sie einen aus dem Fangnetz fischen.
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten fördern
„Bogenschießen fördert Koordination und Körperwahrnehmung, Kontrolle und natürlich die Konzentration“, sagt Rehwald. „Während des Schusses geschieht so vieles gleichzeitig. Um den Pfeil auf der Scheibe zu platzieren, müssen ja bestimmte Schritte aufeinanderfolgen. Man muss den Bogen richtig fassen, eine ausreichende Spannung herstellen und im richtigen Moment loslassen.“ Die korrekte und andauernde Ausführung der Bewegung stärke den Körper. „ Es kommt zu einer Verbesserung der Kraft und Ausdauerfähigkeit.“ Rehwald bringt noch ein weiteres wichtiges Stichwort ins Gespräch: die Selbstwirksamkeit – der Glaube an sich selbst, das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten. „Beim Bogenschießen stellen sich recht schnell Erfolgserlebnisse ein, das gibt (Selbst-)Vertrauen. „Es ist schön, zu sehen, was bei den Jugendlichen passiert, wie sie sich entwickeln und auch im übertragenen Sinne wachsen. Die Körperhaltung etwa ist schon nach kurzer Zeit eine andere, aufrechter und in gewisser Weise selbstbewusster.“
Der erste Volltreffer gelingt an diesem Tag Lias (12), der strahlend die Trophäe in Form des geplatzten Luftballons in die Hosentasche steckt. Mit der Faust „klatschen“ Lennart und der glückliche Schütze ab. Die unter Sportlern üblich Geste ist für Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung keineswegs selbstverständlich. Das „Abklatschen“ ist ein Ausdruck von Vertrauen, Zusammengehörigkeit und ein gemeinsames „Freilassen“ der Emotionen, der Freude. Auf zur nächsten Runde. Greifen, auflegen, spannen, anvisieren, loslassen: Lennart bringt die Pfeile mit einer beeindruckenden Konstanz auf die Scheibe. Wenngleich er nicht den Luftballon trifft, zeigt sich bei ihm Talent. Seine Ausführung ist vorbildlich. Der 14-Jährige fühlt sich merklich wohl in der Kleingruppe und ist mit Begeisterung und Ehrgeiz bei der Sache: „Es ist anders als in anderen Gruppen, kleiner, ruhiger, angenehmer. Und das Bogenschießen macht echt Spaß, es ist cool, zu treffen. Ich möchte mich noch weiter verbessern.“
Für Rickmar, sonst immer der sicherste Schütze, der sogar einen Tennisball auf weite Entfernung trifft, läuft es zunächst nicht so gut wie erwartet. Aber er steckt nicht auf, bleibt unbeirrt dran, arbeitet an sich und seiner Körperhaltung – und schließlich platzt der Knoten, besser gesagt: der Luftballon. Zwei Luftballon-Trophäen heimst der 15-Jährige am Ende ein. Und er nimmt neben dem Erfolgserlebnis die wichtige Erkenntnis mit, dass es sich auszahlt, geduldig und ausdauernd zu sein, dass er mit dem nötigen Willen und Entschlossenheit in der Lage ist, ein kleines „Tief“ zu überwindet und zurück zu alter Stärke zu finden. Daraus wird er nur noch mehr Kraft und Motivation schöpfen. Eine Lektion fürs Leben. Alle drei Jungen gehen mit einem guten Gefühl aus der Stunde.
„Bogenschießen passt wie die sprichwörtliche „Faust aufs Auge“ für Jugendliche mit Autismus“, sagt Tom Rehwald: „Es ist relativ leicht zu lernen, aber nur durch ständiges Training zu perfektionieren, die Bewegungsabläufe werden immer wieder geübt. Jeder ist für sich selbst verantwortlich und kann seine eigenen Ziele erreichen.“ Ebenso bedeutsam sei der Aspekt der sozialen Teilhabe. Teil einer Gruppe zu sein, auf der gleichen Ebene wie die anderen. Freizeit miteinander zu verbringen, ein gemeinsames Hobby zu haben. „Sie können über das Gleiche reden, haben das gleiche Ziel, den gleichen Fokus. Da entsteht so etwas wie Kommunikation und Gemeinschaftsgefühl. Das gibt den Jugendlichen, aber auch deren Eltern, ein Stück weit Normalität“, sagt Rehwald. Ihm ist daran gelegen, die Eltern einzubinden – indem er ihnen Fotos von der Stunde zukommen lässt, das Gespräch sucht und die letzte Viertelstunde zum Zuschauen einlädt. Mit spürbarer Freude und Stolz reagieren die Elternteile auf die durchweg positiven Rückmeldungen, die sie von dem Therapeuten und Bogenschieß-Trainer erhalten – ein Erfolgserlebnis für alle Beteiligten.