"Kinder lernen im Spiel Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster"
Giulien besucht die 5. Klasse des Gymnasialzweigs der KGS Neustadt. Der Elfjährige ist sehr aufgeweckt, intelligent – und doch einen Tick anders als seine Mitschüler. Seine Besonderheiten machten ihn in der Grundschule zum Außenseiter. Wenn die anderen Kinder miteinander spielten, war er häufig außen vor. Es ging ihm nicht gut, oft plagten ihn Bauchschmerzen. Auf der KGS läuft es nun deutlich besser. Auch, weil es für seine „Andersartigkeit“ inzwischen eine Diagnose gibt: Giulien hat eine Autismus-Spektrum-Störung, das Asperger-Syndrom.
Seit März 2020 kommt er einmal pro Woche zu einer zweistündigen Einzelsitzung in die Autismusambulanz der Lebenshilfe Seelze in Wunstorf. Giulien freut sich auf die Treffen mit Lebenshilfe-Mitarbeiterin Nina Ve Venz. Was sie an diesem Tag machen werden, haben die beiden schon die Woche zuvor gemeinsam festgelegt. Giulien weiß gerne, was ihn erwartet, er bevorzugt feste Abläufe, das gibt ihm Struktur. Deshalb läuft die Therapiesitzung nach einem wiederkehrenden Muster ab: Erst ein lockeres Gespräch, dann längeres Spielen, Pause, dann eine zweite Spielphase – und das Klavierspiel gehört immer dazu. Auch eines dieser Rituale. „Giulien hat klare Vorstellungen davon, was wir in den Sitzungen machen wollen, zeigt sich aber auch kompromissfähig“, sagt Venz.
Individuelle Förderung
Die speziell geschulten Fachkräfte der Autismusambulanz entwickeln individuelle Förderpläne und orientieren sich an den jeweiligen Stärken und Bedürfnissen ihrer jungen Klienten. Spielen sei bei Kindern und Jugendlichen das A und O, sagt Venz. „Dadurch werden soziale Kompetenz und Kommunikation, Kreativität, Vorstellungsvermögen, der Umgang mit Gefühlen und vieles andere mehr gefordert und gefördert. Kinder lernen im Spiel Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster, die ihnen im Leben weiterhelfen. Insbesondere Rollenspiele bergen viel Potenzial und sind eine Herausforderung für Menschen mit Autismus.“
Los geht’s im Bewegungsraum. Mit großen Schaumstoff-Elementen und Decken möchte Giulien eine Höhle bauen. Eine spaßige, aber auch lehrreiche Angelegenheit. „Zunächst muss er eine Idee davon haben, wie die Höhle aussehen soll und einen Plan entwickeln. Und er ist gefordert, die Sache zu Ende zu bringen“, sagt Venz. Schnell merkt der Elfjährige, dass es deutlich leichter von der Hand geht, wenn jemand mit anfasst. „Er lernt, um Unterstützung zu bitten, Hilfe anzunehmen und auch Ideen von anderen zuzulassen“, erläutert Venz. Die Höhle kann sich sehen lassen, eine schöne Bestätigung für den stolzen Erbauer.
Regeln einhalten, Grenzen respektieren
Beim anschließenden Hockeyspiel kann Giulien seinen Bewegungsdrang stillen. Gleichzeitig geht es darum, Regeln einzuhalten und Grenzen zu respektieren. „Kinder können dabei eine Frustrationstoleranz entwickeln, die ihnen auch in anderen Situationen hilft“, sagt Venz. Es sei wichtig, dass Kinder verlieren, ohne zu denken, sie seien weniger wert als der Gewinner.
Pause auf dem Sofa. Kurz entspannen und runterkommen. Giulien redet über alles, was ihm auf dem Herzen liegt. Weiter geht’s. Schnell und gekonnt zeichnet er am Flipchart einen Würfel und erklärt nebenbei, wie es geht. Er hat Spaß daran, anderen etwas beizubringen. Dass der Gymnasiast am Klavier Stücke vorspielt, die er sich selbst – ohne Lehrer – angeeignet hat, gehört mittlerweile zu jeder Sitzung.
Beim Duell am Tischkicker ist wieder Bewegung im Spiel. Auch hier gilt: Verlieren will gelernt sein. Giulien hat an diesem Nachmittag allerdings häufig Grund zum Torjubel und genießt die Erfolgserlebnisse. Mit den Magnetfußballern am WeyKick-Tisch zeigt er sich ebenfalls zielsicher.
Zwei Stunden sind fast um. Giuliens Mutter wartet schon am Eingang. Wie verabredet muss zuvor noch die Höhle abgebaut werden, alle Schaumstoff-Bausteine und Decken kommen wieder an ihren angestammten Platz. Das gehört dazu. Das Einhalten von Absprachen sei wichtig, sagt Venz, die derzeit einen Förderplan für Giulien schreibt. Wenn Corona es zulässt, möchte sie Ausflüge unternehmen, eventuell auch mit anderen Kindern und Jugendlichen, die in der Autimusambulanz gefördert und begleitet werden.